5. Mai 2023

Wirtschaften in planetaren Grenzen – von der Theorie zur Praxis

Nachhaltigkeit ist für uns Menschen existenziell, nicht für die Natur. Um diese Botschaft unseres ersten Artikels „Was wirksame Nachhaltigkeit bedeutet – und wie sie gelingt“ zu vertiefen, blicken wir auf die Geschichte der Menschheit zurück. Wir könnten dies entlang von Werkzeugfunden, der Entwicklung mathematischer Grundsätze und der Entdeckung der Elektrizität tun. Wir könnten auf den Aufstieg und Abstieg der großen Reiche der Ägypter, Azteken, Chinesen, Osmanen oder Römer schauen. Oder wir lassen uns von der Frage leiten, wie das Klima das Leben der Menschen und ihren Wohlstand, aber auch der Wohlstand unsere Umwelt beeinflusst hat.

Das Klima der Erde war über viele tausend Jahre der Erdgeschichte von Extremen und Veränderungen geprägt. Physikalische, chemische und biologische Faktoren regulierten das Klima. Eis- und Warmzeiten wechselten sich immer wieder ab. Als Jäger und Sammler passten unsere Vorfahren ihr Leben den natürlichen Gegebenheiten an und folgten den Wanderbewegungen der Wildtiere und dem saisonalen Nahrungsangebot. Zu einem entscheidenden Umbruch kam es, als vor circa 10.000 Jahren eine Epoche besonderer klimatischer Stabilität und Beständigkeit begann: das Holozän. Es ermöglichte den Menschen, sesshaft zu werden, Felder zu bewirtschaften, Häuser und Straßen zu bauen und Handel zu betreiben1. Ohne die klimatische Stabilität des Holozäns wären unsere heutigen, technologisch und kulturell hoch entwickelten Gesellschaften nie entstanden.

Abbildung 1: Temperaturschwankungen vor und während des Holozäns basierend auf den Oberflächentemperaturen des grönländischen Eises2

Unsere Vorfahren lebten lange Zeit im Einklang mit der Natur. Die Natur beeinflusste die Lage ihrer Siedlungsräume, bestimmte ihre Mahlzeiten und lieferte ihnen Medizin sowie Rohstoffe als Tauschmittel. Diese Abhängigkeiten bestehen bis heute, doch unsere Verbundenheit mit der Natur und all den Lebewesen, mit denen wir uns diesen Planeten teilen, scheint verlorengegangen. Die schwindende Wertschätzung und Beachtung der Natur durch uns Menschen ist nicht folgenlos geblieben: Das Wasser ist heute weniger sauber und die Luft weniger rein. Wir haben Wälder in Äcker verwandelt und Ozeane und Kontinente in riesige Müllhalden. Im Vergleich zur vorindustriellen Zeit sind die globalen Wälder um 32 Prozent und die weltweiten Wirbeltierbestände – Säugetiere, Reptilien, Vögel, Amphibien und Fische – um 69 Prozent geschrumpft3. Umweltkatastrophen und extreme Wetterereignisse haben zugenommen.

Einem kleinen, privilegierten Teil der Weltbevölkerung in den wohlhabenden Industriestaaten ist es mit Hilfe von Technologien möglich, sich diesen Veränderungen bis zu einem gewissen Grad anzupassen. Doch nicht erst mit der Flutkatastrophe im Ahrtal, dem rasanten Verlust unserer heimischen Wälder oder der zunehmenden Dürre in Brandenburg wird deutlich, dass selbst Deutschland – eines der am weitesten entwickelten und reichsten Länder der Welt – durch die Degeneration der Natur akute gesellschaftliche und wirtschaftliche Schäden erleidet. Forscher:innen des Weltwirtschaftsforums haben errechnet, dass mehr als die Hälfte des globalen Bruttoinlandprodukts (BIP) im Wert von mindestens 44 Billionen US-Dollar von Ökosystemleistungen abhängt4. Allein in Deutschland verursacht der Klimawandel seit 2000 jährlich durchschnittliche Schäden in Höhe von 6,6 Milliarden Euro5. Zudem könnte der fortschreitende Verlust der biologischen Vielfalt die Weltwirtschaft bis 2030 jährlich bis zu 2,7 Billionen US-Dollar kosten6 und ein ungebremster Klimawandel das durchschnittliche globale Einkommen bis zum Jahr 2100 um 23 Prozent verringern7.  

All das wirft Fragen auf: Wie stark hat der Mensch den Zustand unseres Planeten in wenigen hundert Jahren verändert? Was bedeutet das für unsere Gesellschaften? Welche Rolle spielt unsere Wirtschaft heute und in der Zukunft? 

Das Konzept der planetaren Grenzen

Um diese Fragen zu beantworten, haben internationale Wissenschaftler:innen unter der Leitung von Prof. Dr. Johan Rockström aktuelle Erkenntnisse der Erdsystemforschung zusammengetragen und Belastungsgrenzen für neun Umweltprozesse identifiziert8, die eine regulierende Wirkung auf das Erdsystem haben. Diese sogenannten planetaren Grenzen markieren einen „sicheren Handlungsraum für die Menschheit“. Innerhalb dieses Raumes bleiben das Klimasystem sowie wichtige Ökosystemfunktionen stabil und widerstandsfähig und unsere Lebensgrundlagen sicher. Überschreiten wir durch unser Handeln bestimmte Schwellenwerte der planetaren Grenzen, kann das zu irreversiblen Systemveränderungen führen. Diese hätten für große Teile der Menschheit erhebliche Verschlechterungen ihrer Lebens- und Überlebensbedingungen zur Folge. 

Abbildung 2: Das Konzept der planetaren Grenzen quantifiziert ökologische Belastungsgrenzen der Erde für insgesamt neun globale Umweltprozesse, Grafik © Azote for Stockholm Resilience Centre, based on analysis in Wang-Erlandsson et al 2022

Die jüngsten Bewertungen des Zustands der planetaren Grenzen aus dem Jahr 2022 ergaben, dass bereits sechs der insgesamt neun planetaren Grenzen überschritten sind8, 9, 10. Dies trifft auf den Klimawandel (climate change), die Biosphärenintegrität (biosphere integrity) und den Landsystemwandel (land-system change) sowie auf biogeochemische Prozesse (biogeochemical flows), das Einführen neuer Substanzen (novel entities) und Süßwasserveränderungen (freshwater change) zu. Die Ursachen hierfür sind neben vielen weiteren die Produktion und das in Umlauf bringen großer Mengen von Plastik und Schwermetallen sowie von Stickstoff und Phosphor durch bestimmte Industriezweige und die Agrarwirtschaft. 

Ökosysteme und ihre Kipppunkte im Anthropozän 

Der Mensch hat den Planeten Erde bereits so grundlegend verändert, dass Forscher:innen eine neue erdgeschichtliche Epoche ausgerufen haben: das Anthropozän11. In diesem Zeitalter ist der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren für die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden – und zu deren größter Bedrohung. Mit jedem Baum, den wir fällen, mit jeder Tonne CO2, die wir in die Atmosphäre einbringen, mit jedem Feuchtgebiet, das wir trockenlegen, erhöhen wir das Risiko, sogenannte Kipppunkte zu überschreiten.  

Die Wissenschaft geht davon aus, dass Veränderungen von wesentlichen Komponenten des Ökosystems Erde, wie dem Amazonas Regenwald, der antarktischen Eisschilde oder tropischen Korallenriffe, ab einem bestimmten Punkt abrupte und nicht-linear verlaufende Prozesse in Gang setzen können. Die Folge wären unumkehrbare Störungen unserer Umwelt12.

Mit Blick auf den Klimawandel warnen Wissenschaftler:innen, dass zwischen einer atmosphärischen CO2-Konzentration von 350 bis 450 parts per million (ppm) ein Kipppunkt überschritten werden könnte. Wir haben bereits heute eine globale CO2-Konzentration von über 410 ppm und einen Temperaturanstieg von 1,2°C im Vergleich zur vorindustriellen Zeit erreicht. Damit haben wir den sicheren Handlungsbereich, in dem unser Klima stabil und unsere Ökosysteme widerstandsfähig bleiben, längst verlassen. Überschreiten wir den Klima-Kipppunkt dauerhaft, könnten die großen Eisschilde vollständig abschmelzen und zu einem Meeresspiegelanstieg von mehr als 10 bis 12 Meter führen. Dabei wären bereits bei einem bis 2050 projizierten Meeresspiegelanstieg von „nur“ 0,5 Metern weltweit über 800 Millionen Menschen in bis zu 570 Küstenstädten von Überschwemmungen betroffen13. Die durch die Überflutungen versursachten jährlichen Kosten würden sich auf bis zu 1 Billion US-Dollar belaufen14.

Das zusätzliche Überschreiten weiterer Kipppunkte des Erdsystems, wie den des Amazonas-Regenwaldes, kohlenstoffreicher Permafrostböden oder der Atlantischen Thermohaline-Strömung, könnte zu einer extremen Intensivierung der Erderwärmung – einer sogenannten „Heißzeit“ – führen. Ein drastisch ansteigender Meeresspiegel, zunehmende Überschwemmungen, Dürren, Wald- und Flächenbrände hätten katastrophale Auswirkungen auf unsere Lebensgrundlagen. So wären der Fortbestand zahlreicher Küstenstädte und die globale Nahrungsmittel- und Wasserversorgung gefährdet. Das wiederum hätte politische Instabilität, Migrationsströme und gesellschaftliche Zusammenbrüche zur Folge. 

Wir brauchen einen Paradigmenwechsel

Es ist an der Zeit, Umwelt- und Erdsystemveränderungen ernst zu nehmen, die Natur wieder wertzuschätzen, sie zu respektieren und als das zu behandeln, was sie ist: das Fundament unseres Lebens, unserer Wirtschaft und unseres Wohlstands. Wir brauchen ein gesamtheitliches Umdenken und einen fundamentalen, systemweiten Paradigmenwechsel für eine sichere und wirtschaftlich stabile Zukunft.   

Nachhaltigkeit wurde lange Zeit als werbewirksames Differenzierungsmerkmal von Unternehmens- und Produktmarken betrachtet und war vor allem in PR- und Marketing-Abteilungen angesiedelt.

Das hat sich grundlegend geändert. Heute wird Nachhaltigkeit mehr und mehr als strategischer Erfolgsfaktor verstanden, der alle Bereiche eines Unternehmens betrifft. Rohstoffpreise und -verfügbarkeit, Produktionskosten, Regulatorik, Risikomanagement oder Mitarbeitergewinnung und -bindung liefern Unternehmen gute Argumente dafür, ihre Geschäftsaktivitäten an den planetaren Grenzen auszurichten. Unternehmen, die sich nicht transformieren, werden weder Abnehmer für ihre Produkte noch motivierte Mitarbeitende finden. Sie werden nicht mehr wettbewerbsfähig produzieren können und langfristig durch staatliche Regularien und gesellschaftlichen Druck ihre Legitimität verlieren.

Schon jetzt orientieren sich immer mehr Staaten strategisch – und zunehmend auch regulativ – an den planetaren Grenzen. Ein Ziel der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie ist „eine wirtschaftlich leistungsfähige, sozial ausgewogene und ökologisch verträgliche Entwicklung, wobei die planetaren Grenzen unserer Erde […] die absoluten Leitplanken für politische Entscheidungen bilden“. 

Paradoxerweise stellt eine neue McKinsey Studie fest, dass sich erst sehr wenige Unternehmen ökologisch relevante Ziele jenseits von Klimazielen setzen. Beispielsweise geben nur 5 Prozent der 500 weltweit größten Unternehmen an, ein Biodiversitätsziel zu verfolgen15. Einen Grund hierfür vermuten die Autoren der Studie in fehlenden Methoden und Instrumenten zur Umsetzung wissenschaftsbasierter ökologischer Ziele, wie wir sie aus dem Klimabereich kennen. 

„One Planet Business“ gesucht 

Unternehmen können langfristig nur dann erfolgreich sein, wenn sie ihr Handeln mit den planetaren Grenzen in Einklang bringen. Wichtig ist, dass wir die planetaren Grenzen nicht länger als Limitierung wirtschaftlicher Möglichkeiten begreifen, sondern als zuverlässigen Kompass, der Unternehmen den Weg in eine stabile und sichere Zukunft weist.  

Das One Planet Business Framework (OPBF) wurde vom WWF entwickelt, um ganzheitliche Nachhaltigkeit für Unternehmen verständlich und umsetzbar zu machen. Das Rahmenwerk formuliert Anforderungen entlang der vier übergeordneten Nachhaltigkeitsschwerpunkte Klima, Süßwasser, biologische Vielfalt und Menschenrechte und liefert konkrete Lösungs- und Handlungsansätze. Mit einer zielgerichteten, individuell abgestimmten Transformations-Roadmap wird es Unternehmen möglich, ihre Geschäftsaktivitäten wirksam an den planetaren Grenzen und globalen Zielen auszurichten. 

Sie möchten Ihr Unternehmen auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereiten? Dann beginnen Sie hier und heute damit, Ihr Unternehmen auf den Pfad eines One Planet Business zu lenken, das sozial verantwortlich innerhalb planetarer Grenzen wirtschaftet. Gerne begleiten wir Sie auf diesem Weg.

Autor:innen: Dr. Julia Strahl, Justus Kammüller, Daniel Metzke

Quellen

Young, O. R., and W. Steffen. 2009. The Earth system: sustaining planetary life-support systems. Pages 295–315 in F. S. Chapin, III, G. P. Kofinas, and C. Folke, editors. Principles of ecosystem stewardship: resilience-based natural resource management in a changing world. Springer, New York, USA. 

2 Modified from http://amap.no/acia/ 

3 WWF/ZSL. (2022). The Living Planet Index database: www.livingplanetindex.org 

4 Herweijer et al. (2020). Nature Risk Rising: Why the crisis engulfing nature matters for business and the economy. World Economic Forum. 

5 www.prognos.com/de/projekt/bezifferung-von-klimafolgenkosten-deutschland

6 Johnson et al. (2021). The economic case for nature: a global earth-economy modelt o assess development policy pathways. World Bank, Waschington, DC. 

7 Burke, M., Hsiang, S. & Miguel, E. Global non-linear effect of temperature on economic production. Nature 527, 235–239 (2015).  

8 Steffen, Will, et al. „Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet“. science 347.6223 (2015): 1259855. 

9 Wang-Erlandsson, Lan, et al. „A planetary boundary for green water“. Nature Reviews Earth & Environment (2022): 1-13. 

10 Persson, Linn, et al. „Outside the safe operating space of the planetary boundary for novel entities“. Environmental science & technology 56.3 (2022): 1510-1521. 

11 Sven Titz: Ausrufung des Anthropozäns: Ein gut gemeinter Mahnruf. In: Neue Zürcher Zeitung vom 4. November 2016

12 T.M. Lenton et al., Tipping Elementes in the Earth´s climate system. PNAS, 2008, 105, 1786-1793

13  UCCRN. „The Future We Don’t Want: How Climate Change Could Impact the World’s Greatest Cities“. UCCRN Technical Report (2018). 

14 Hallegatte, Stephane, et al. „Future flood losses in major coastal cities“. Nature climate change 3.9 (2013): 802-806. 

15 https://www.mckinsey.de/capabilities/sustainability/our-insights/where-the-worlds-largest-companies-stand-on-nature   

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Planetare Grenzen

Das Konzept der planetaren Grenzen, das unter Leitung von Professor Dr. Johan Rockström vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) entwickelt wurde, definiert Belastungsgrenzen für neun zentrale Umweltprozesse – und markiert so einen sicheren Handlungsraum für uns Menschen.

Planetare Grenzen
Planetare Grenzen © Azote for Stockholm Resilience Centre, based on analysis in Richardson et al 2023